Radiopredigt am 27. November 2022 im ORF-Radiogottesdienst von P. Provinzial Thomas G. Brogl OP
Unsere Weigerung, aufzuwachen
Der christliche Weisheitslehrer Anthony de Mello erzählt folgende Geschichte. Ein Vater klopft an die Tür seines Sohnes. „Jim“, sagt er, „wach auf!“ Jim antwortet: „Ich will nicht aufstehen, Papa.“ Der Vater: „Steh auf, du musst zur Schule gehen.“ Jim sagt: „Ich will nicht zur Schule gehen.“ „Warum nicht?“ fragt der Vater. „Drei Gründe“, sagt Jim. „Erstens, weil es so langweilig ist; zweitens, die Kinder ärgern mich; und drittens, ich hasse die Schule.“ Da sagt der Vater: „Nun, ich werde dir drei Gründe nennen, warum du zur Schule gehen musst. Erstens, weil es deine Pflicht ist, zweitens, weil du 45 Jahre alt bist, und drittens, weil du der Lehrer bist.“
Eine humorvolle Geschichte – aber eine Geschichte, in der auch viel Weisheit steckt. Die Weisheit, dass wir bei vielem nicht aufwachen und erwachsen werden wollen; dass wir gerade dort, wo es schwierig ist, nicht die Realität anerkennen, annehmen wollen.
In manchem reagieren wir immer noch wie Kinder: Trotzig. Zornig. Unversöhnlich. Wir wollen lieber weiterschlafen und im warmen Bett bleiben. Die kalte Realität draußen lassen. Und uns lieber was vormachen, wer oder was alles schuld sind an unserem Unglück. Doch immer die anderen für schuld an unserem Unglück zu halten ist der sicherste Weg, unglücklich zu bleiben…
Aufwachen zu sich selbst
„Wach auf!“ Dieser Ruf kommt uns im Advent entgegen. Der christliche Advent ist anders als der Advent, den wir auf den Weihnachtsmärkten und in den Einkaufsstraßen erleben. Dort ist Advent: Weihnachtsschmuck, sentimentale Lieder, warme Gefühle. Alles gut, alles schön.
Der christliche Advent ist anders. Herber, hantiger, ungemütlicher. Eben zum Aufwachen. Weil es im christlichen Advent nicht um die schönen Gefühle geht, sondern dass unser Leben in der Wurzel wieder heil und froh werden soll – unser Leben, das eben nicht heile Welt ist.
Und dazu ist der erste Schritt ein unangenehmer: Wach werden!
Ein besonders beeindruckendes Zeugnis dafür geben die Schriften des christlichen Märtyrers Alfred Delp. Als Widerstandskämpfer wurde er von den Nazis ermordet. Sein letzter Advent 1944, im Gefängnis, war für ihn ein besonders langer. Delp schreibt mit gefesselten Händen. Der pathetische Ton früherer Jahre ist verflogen; seine Sprache wird ganz wahrhaftig und ehrlich. Er geht durch tiefe Täler des Zweifels und der Verzweiflung. Aber gerade in diesen wird ihm bewusst, was der Advent eigentlich ist. Er schreibt:
„Der Advent ist eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst. (…) Gerade in der Herbheit des Aufwachens, in der Hilflosigkeit des Zu-sich-selbst-Kommens, in der Erbärmlichkeit des Grenzerlebnisses erreichen den Menschen die goldenen Fäden, die in diesen Zeiten zwischen Himmel und Erde gehen und der Welt eine Ahnung von der Fülle geben, zu der sie gerufen und fähig ist.“
Es ist eigentlich ein Widerspruch: Dass in der Hilflosigkeit, der Not die goldenen Fäden des Advents sichtbar werden. Dass der Advent genau in dieser Situation hineinspricht.
Sichtbar werden sie aber nur, wenn wir bereit sind, aufzuwachen, aufzuwachen zu uns selbst. Dieses Aufwachen ist unangenehm. Wir alle leben in Selbsttäuschungen: „Die anderen sind schuld, dass alles so schlecht ist. Wenn die anderen das und das machen würden; wenn das und das so wäre; wenn das und das nicht geschehen wäre; wenn ich ….“ „Hätte, wäre, wenn“. Wir leben oft genug im Konjunktiv – als Einzelne wie auch als Gesellschaft, wo wir uns bei vielem in die Tasche lügen. Wir verharren in der „Seinslüge“, wie P. Alfred Delp schreibt. Damit sind wir aber auch ein bisschen wie Jim am Anfang der Geschichte: Wir wollen nicht wach werden; wir begnügen uns damit: Unser Umfeld, die anderen sind schuld, dass es uns nicht gut geht.
Alfred Delp macht eine andere Erfahrung: Obwohl alles um ihn herum dunkel ist, seine Lage aussichtslos, erreichen ihn die goldenen Fäden ausgerechnet im Gefängnis; wird ihm erst dort klar, was Advent eigentlich meint. „Mangel an Erfüllung und Verheißung und Bewegung“ werden für Delp “ eine adventliche Dimension“ des Lebens. Der Schlüssel zu unserem Glück ist nicht außen zu finden, er liegt in uns: Ob wir in aller Dunkelheit wirklich der Botschaft Christi glauben, ihr die Tür öffnen. Es ist nicht entscheidend, dass der andre seine Schuld, seine Fehler einsieht, sondern dass ich mit dem Blick auf das Kreuz durch alle Wut, allen Schmerz in die Versöhnung, in die Annahme komme.
Um des Advents fähig zu werden, braucht es, so Delp, das „erschütterte Erwachen“; das „erschütterte Erwachen, das Bedürftigkeit unseres Daseins, den Schmerz in unserem Leben und unseren Familien, die Unversöhntheit nicht klein- oder schönredet, sondern im Gegenteil in all ihrer Schärfe wahrnimmt. Adventliches Dasein ist ein Dasein, das sich der eigenen Grenze und Ohnmacht sehenden Auges und offenen Herzens aussetzt – und es nicht mit Konsum und Weihnachtsglanz überkleistert. Adventliches Dasein ist erschüttertes Dasein, gelebte, erlittene Sehnsucht. Sich nicht mit dem Unheilen einfach zufriedengeben, aber auch Ohnmacht zuzugeben und Illusionen loszulassen. Dann wird hinter dem Riss unseres Lebens etwas Goldenes sichtbar: Dass in aller Bedürftigkeit Gott zu uns kommt – in die Armut unseres Lebens, unsere leeren Herzen, die so sehr nach Annahme, Frieden und Versöhnung schreien.
Mut haben, aufzuwachen
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Alfred Delp hat in einer berühmten Adventspredigt 1941 formuliert: „Es fehlt vielleicht uns modernen Menschen nichts so sehr als die echte Erschütterung“. Dieser Satz stimmt auch heute noch. Viel Ungutes, viel Unheiles wird heute zugekleistert durch Konsum, durch Ablenkung, durch Dauerbeschallung. Und dann wundern wir uns, dass gerade an Weihnachten der Unfriede besonders zum Vorschein kommt. Eben weil es keinen echten Advent gegeben hat, weil wir die Erschütterung über das Unheile in unserem Leben nicht an uns, an Gott herangelassen haben. Der Advent will, dass echter Frieden einkehren kann. Dazu müssen wir uns aber erschüttern lassen zu uns selbst. Wieder bedürftig, verletzlich werden wie dieses Kind im Stall. Wo wir das wagen, vor Gott und voreinander, ist wieder Frieden möglich.
Der Weg dazu geht über die Begegnung mit diesem Gott, der die Verletzlichkeit, Bedürftigkeit gewagt hat. Deshalb ist auch „die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit … die Stunde der Begegnung mit Gott“, wie es Alfred Delp formuliert. Hier werden wir in unseren Ängsten, unseren Verhärtungen und Sorgen aufgebrochen – und hier kommt das Neue Gottes in unser Leben. „Das gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände“ waren für Delp die „Urgebärden des freien Menschen“. Dann könnten sogar die Fesseln unseres Lebens zum „Sakrament der Freiheit“ werden. Mit Delps Worten: „Gottes ist der Tag und die Nacht, die Fessel und die Freiheit, der Kerker und die weite Welt. In all dem soll der große Sinn der Gottesbegegnung sich erfüllen. … Jede Nacht aushalten bis zu ihrer Mitte. Sie enthüllt sich als Weihe-Nacht der Gottes(an)kunft.“ Amen