Predigt von P. Provinzial Thomas G. Brogl OP in der ORF-Radiomesse am 26. März 2023
Schmerzvermeidung – Signatur unserer Gesellschaft
„Ich ziehe mich zurück. … (Und) gehe dahin, wo Schmerzen noch erlaubt sind, wo Schmerzen nicht sofort im System erkennbar sind.“ Das sind Worte aus dem Krebstagebuch des bekannten Künstlers und Regisseur Christoph Schlingensief. Worte der Verzweiflung eines Krebskranken, der die Erfahrung macht, dass die Schmerzen keinen Ort haben in unserer Gesellschaft. Erfahrungen von einem unter vielen, die die Erfahrung machen müssen, wie allein gelassen man im Leid sein kann…
Diese Wahrnehmung teilt auch der bekannte Kulturwissenschaftlicher Byung-Chul Han. In seinem Buch „Palliativgesellschaft“ spricht er davon, dass wir in einer Kultur leben, die durch und durch auf Schmerzvermeidung aus ist. Überall herrsche eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Um den Schmerz zu vermeiden, finde eine Daueranästhesierung, eine Dauerbetäubung statt. Sie hat zum Ziel, jeden schmerzhaften Zustand zu vermeiden. In der Konsumgesellschaft sei alles nur aufs Positive getrimmt, auf das Konsumierbare. Doch damit verflache unser Leben. Denn, so Han, „wird der Schmerz unterbunden, so verflacht das Glück zu einer dumpfen Behaglichkeit.“ Die Gesellschaft, die Schmerz ausscheidet, werde stumpf, oberflächlich; und letztlich auch – in der Tiefe – unglücklich.
„Da weinte Jesus“ – das Hineinholen des Schmerzes in Gott
„Da weinte Jesus“. Dieser Satz steht in der Mitte unseres heutigen Evangeliums – fast wie ein Wendepunkt. Der über allem erhabene Gott, der über den Himmeln ist, wird Mensch und weint – weint über den Tod des Freundes. Es ist der kürzeste Satz der Bibel und stellt so etwas wie eine Essenz des christlichen Gottes dar.
Dieser Satz verwundert im Johannes-Evangelium umso mehr, als Johannes die Erhabenheit Jesu als Herr über das Leben besonders betont. Als die Nachricht über die lebensbedrohliche Krankheit des Lazarus kommt, reist Jesus nicht gleich ab, um ihn zu heilen; sondern er hält einen Vortrag über die Herrlichkeit Gottes. Er hätte Lazarus auch aus der Ferne heilen können – auch davon wird in der Bibel berichtet; aber auch das tut er nicht. Auch die Tränen scheinen unnötig, weil er ja die Macht hat, zu heilen und aufzuerwecken – was er dann ja auch tut. Dennoch werden die Tränen berichtet – und stehen so merkwürdig quer im Raum…
Sie stehen auch quer zur Philosophie und zum Gottesbild der Antike, die das Ideal der Macht und der Erhabenheit über die Dingen, die Apatheia, betonen. Über die Richtung der Gnosis, die die Leidensfähigkeit Christi verneinte, hatte das auch Eingang in christliche Gruppierungen gefunden.
Doch der Satz: „Da weinte Jesus“ scheint hier einen bewussten Gegenakzent zu setzen.
Denn hier zeigt sich das Andere des Gottesbildes des Christentums. Gott wird Mensch, auch um zu weinen: Anteil zu nehmen am Leid des Menschen, an seiner Ratlosigkeit, am Getrenntsein. Im Satz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ wird Jesus am Kreuz der Inbegriff allen Getrenntseins – des Getrenntseins von seinem Vater, seinem Ein und Alles. Dieses Getrenntsein erleben wir selbst an so vielen Punkten des Lebens: in unserer Trauer, unserer Frage nach dem „Warum“?, In diese Ohnmacht und diesen Schmerz ist der Satz: „Und Jesus weinte“ hineingesprochen.
Der tiefste Grund dieses Satzes: Wo geweint wird, da wird geleibt. Es ist Zeichen von der Verbundenheit Jesu mit unserem Leid, Zeichen eines liebenden Gottes. Was Trennung heißt, das erleidet der am tiefsten, der am meisten liebt.
Dagegen stößt Jesus Weherufe aus gegen die Satten und Reichen; gegen die, die aus dem Jetzt das Mögliche herausholen. Die jeden Leerraum, den Leiden schaffen könnte, sofort mit irdischen Tröstungen füllen. Die nichts an sich heranlassen, sondern satt in sich selbst stehen. „Die Frohe Botschaft vom Reich Gottes baut darauf auf, dass einer die Welt an sich heranlässt und erfährt, wie sie in ihrer jetzigen Beschaffenheit wirklich ist, dass er mitträgt an ihrer Not, nicht umlügt in ein Gemächte seiner Wünsche, seiner Vorstellungen und seines Eigennutzes“ – so hat es Heinrich Spaemann formuliert. Sattheit trägt dabei viele Gewänder: Die Gleichgültigkeit, der ohnehin alles egal ist; die Bequemlichkeit, die sich mit Watte abschirmt von allem Unangenehmen; die Angst, die mich in Sicherheit bleiben lässt; die Ungeduld, die das Leiden nicht aushalten möchte; und die Schönfärberei, die alles rosarot streicht. Das alles ist das Gegenteil von Liebe. Die beginnt mit der Annahme dessen, was ist – mit dem Ablegen unseres Panzers, mit der Annahme des Kreuzes. Wo geweint wird, da wird geliebt.
Dazu passt das Wort Jesu in der Bergpredigt: „Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden“. Selig die, die die Welt an sich heranlassen. Und es gibt „Dinge, zu denen kein anderer Zugang ist als durch Tränen hindurch“ (Spaemann). Wer den Schmerz nicht mehr an sich heranlassen will, wird stumpf und lebendig tot; und mit ihm seine Beziehungen.
Bindung
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
die spirituellen Meister des Christentums sprechen von der Gabe der Tränen. Diese Tränen bedeuten gerade in schwierigen und unlösbaren Situationen einen sogenannten „Transitus“, einen Übergang in etwas Neues: den Moment der Neuschöpfung. Der hl. Augustinus wurde von seinem Lehrer, dem hl. Ambrosius, ein „Sohn der Tränen“ genannt. Der Grund: Seine Mutter hatte mit vielen Tränen seine Umkehr erbetet und erlitten. Die Tränen stehen am Ort, wo all unser Bemühen zu Ende ist. Mit den Worten des Philosophen Cioran: „Wenn alle Argumente erschöpft sind, gelangt die Religion an die Tränen. …Wenn einmal die Tränen ausgeweint sind, wird auch die Sehnsucht nach Gott enden“.
Tränen sind das Gegenteil von Beschwichtigung und Verharmlosung; gerade deshalb tragen sie Trost, Hoffnung und Frieden in sich, weil sie sich von woanders her nähren. Wenn Jesus im heutigen Evangelium weint, so sind es auch die Tränen Gottes. In diesen Tränen des Gottmenschen ist unser ganzes Leid anwesend; aber auch das „Ich bin da“ Gottes. Jesu Tränen sind Zeichen der Liebeswunden Gottes, Zeichen seiner tiefen Verbundenheit mit uns. Die Tränen Jesu vermitteln Gottes Schmerz und der Menschen Schmerz, Gottes Sehnsucht und unsere Sehnsucht. Sie sind für uns wie eine Brücke zu seinem Vater – auch über den Tod hinaus.
Letztlich geht es darum: An die Gräber des Lebens, wo wir, wo unsere Mitmenschen fassungslos, ohnmächtig vor Leid stehen, mit Jesus diese Tränen zu bringen – Tränen wörtlich und im übertragenen Sinn: Das Weinen Gottes über die Welt mitzutragen. Dann leuchtet bereits ein Moment der Auferstehung auf, weil durch das Mitleid ein Moment der Liebe wie ein Same in das Leid hineingesenkt wird. Und dort werden wir auch mit Christus Mensch. Byung Chul Han formuliert, dass sich unser Geist erst im
schmerzhaften Verarbeiten von Widersprüchlichkeiten entwickelt.
Wer diese Widersprüchlichkeiten des Lebens aushält – liebend, geduldig aushält, wird zu einem Ort des Trostes. Wo Menschen nicht ihren Schmerz verbergen müssen; wo es Menschen nicht so geht wie Christoph Schliengensief in dem Zitat am Anfang, der nach einem Ort sucht, wo der Schmerz noch erlaubt ist. Weil dort, im Aushalten des Schmerzes Menschsein auch in allen Abgründen Raum findet – und weil dort Auferstehung beginnt. Amen