Zum 700. Jahrestag der Heiligsprechung unseres Mitbruders Thomas von Aquin – am 18. Juli 1323 hatte Papst Johannes XXII. ihn heiliggesprochen – erschien in der Zeitung des Vatikans L’Osservatore Romano ein Artikel des Mitbruders unserer Provinz P. Viliam Štefan Dóci, Präsident des Historischen Instituts des Predigerordens. Veröffentlicht wurde der Beitrag über den großen Kirchenlehrer auf Italienisch im L’Osservatore Romano am 19. Juli 2023 unter dem Titel „Il più dotto tra i santi e il più santo tra i dotti“ (zu deutsch: „Der Gelehrteste unter den Heiligen und der Heiligste unter den Gelehrten“). Im Folgenden ist der deutsche Text von P. Viliam zu lesen:
Ob es stimmt, was Papst Pius XI. in einer 1923 gehaltenen Ansprache über den heiligen Thomas von Aquin sagte, nämlich dass er „der Gelehrteste unter den Heiligen und der Heiligste unter den Gelehrten“ gewesen sei, möchte man gerne offen lassen. Zweifelsohne ist Thomas von Aquin eine der herausragendsten Figuren der Geistesgeschichte und gleichzeitig jemand, der seine Berufung als Christ, Ordensmann und Theologe sehr konsequent und überzeugend lebte. Am 18. Juli 2023 jährt sich zum 700. Mal der Tag seiner Heiligsprechung. Im nächsten Jahr werden wir dann seines Sterbens am 7. März 1274 in Fossanova gedenken, und auch sein Geburtstag vor 800 Jahren steht bereits im Festkalender der kommenden Jahre, wenngleich wir das genaue Geburtsdatum des Aquinaten nicht kennen: nur das Jahr kann ungefähr bestimmt werden: wohl 1225 oder 1226. Dieses dreifache Jubiläum, vor allem aber die Heiligsprechung durch Papst Johannes XXII. (1316–1334) am 18. Juli 1323 in Avignon gibt Anlass, über die Bedeutung des hl. Thomas nachzudenken.
Weg zur Ehre der Altäre
Obwohl die Verehrung für Bruder Thomas bald nach seinem Tod begann, war sein Weg zur Ehre der Altäre mit Hindernissen verbunden. Man denke nur an die Verurteilung der 219 Thesen durch den Pariser Bischof Stephan Tempier im Jahre 1277, die auch den drei Jahre zuvor verstorbenen Magister Thomas betraf, auch wenn dieser in der Verurteilung namentlich nicht genannt wurde. Es folgten Jahre heftiger Kontroverse über das philosophisch-theologische Erbe des Thomas. Der Predigerorden nahm seinen berühmten Lehrer gegen seine Opponenten in Schutz und förderte seine Memoria und seine Lehre. Zu einer kirchenamtlichen Rehabilitierung der thomasischen Doktrin kam es allerdings erst 1325 durch den Pariser Bischof Stephan Bouret, ungefähr anderthalb Jahre nach der Heiligsprechung.
Es ist unbestreitbar, dass trotz des anerkannten Rufs der Heiligkeit auch politische Motive hinter der Kanonisation steckten. Sowohl der neapolitanische König Robert von Anjou (1309–1343), der im Werk des Thomas eine ideologische Stütze seiner Herrschaft fand, als auch der Papst selbst profitierten von der Autorität des neuen Heiligen. Vor allem Papst Johannes XXII. hielt den renitenten Franziskanern im Streit über die Armut und die evangelische Vollkommenheit die Schriften des Aquinaten entgegen, um seine Position gegenüber dem Radikalismus der Minderbrüder theologisch abzusichern. In einer Predigt, die der Papst wenige Tage vor der Heiligsprechung hielt, lobte er ausdrücklich das Leben des Heiligen im Predigerorden, in dem es kein Privateigentum gebe, der jedoch gemeinsames Eigentum zulasse.
Mendikantischer Lebensstil
In der Tat hatte die apostolische Armut für Thomas eine wichtige, ja zentrale Bedeutung. Der Dominikanertheologe Ulrich Horst hat überzeugend nachgewiesen, dass der mendikantische Lebensstil eines der wesentlichen Motive für Thomas war, sich den Plänen seiner Familie zu widersetzen, die ihn als Abt der mächtigen Abtei von Montecassino sehen wollte. Stattdessen 1244 in den jungen Predigerorden eintrat, um dort dem „armen predigenden Christus“ (pauper Christus praedicans) zu folgen. Allerdings setzte er die evangelische Vollkommenheit nicht mit einem Leben in äußerster Armut gleich, sondern erklärte, dass die Vollkommenheit wesentlich in der Liebe bestehe. Die Franziskaner verstanden im Jahr 1323 sofort, dass die Heiligsprechung des Thomas auch eine deutliche Kritik an ihrer Vorstellung von einer absoluten Armut als Höhepunkt christlicher Vollkommenheit enthielt. Aus Quellen des 14. Jahrhunderts erfährt man, dass es auch nach der Heiligsprechung des Thomas eine Reihe von Kritikern gab, die ihn für einen Häretiker hielten.
Man bediente sich also des hl. Thomas als Instrument in ekklesiologischen Kontroversen. Bekanntlich wurde ihm diese nicht unproblematische Rolle als Autorität im Kampf gegen Andersdenkende später immer wieder zugeteilt. Gewiss war Thomas während seiner akademischen Tätigkeit Auseinandersetzungen über verschiedenste Gegenstände nicht aus dem Weg gegangen und hatte sich oft recht deutlich gegen Meinungen positioniert, die er als widersprüchlich zu der von ihm erkannten Wahrheit empfand. Wenn man jedoch diesen polemisch-apologetischen Aspekt im Wirken des Thomas in den Vordergrund stellt und ihn vor allem als theologischen Grenzwächter und Kämpfer gegen Irrlehren wahrnimmt, verkennt man seinen Genius und sein Lebensanliegen. Er hätte sich vermutlich zutiefst gewundert, als Ikone einer „katholischen Gegenkultur“ in Anspruch genommen zu werden. Das kann aber vermutlich nur passieren, wenn man vergisst, Thomas in erster Linie als eine Person in ihrem historischen und kulturellen Kontext zu betrachten, wie es Papst Franziskus den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Internationalen Thomistenkongresses 2022 in Erinnerung rief. Gerade dieser „ursprüngliche“ Zugang legt die Originalität und – das sei hinzugefügt – die Modernität des Heiligen frei, gewiss aber auch – aus heutiger Perspektive – seine Grenzen.
Zusammenspiel von Vernunft und Glaube
Wer war also der heilige Thomas? In erster Linie ein Mensch, der sein ganzes Leben der Suche nach Gott widmete, wobei sich diese Suche durch ein Zusammenspiel von Vernunft und Glaube auszeichnete. In Gott erkannte er das Ziel seiner zutiefst menschlichen Sehnsucht nach Glück. Er lernte Jesus Christus lieben, dem er nachfolgen und ähnlich werden wollte, und zwar in der konkreten Lebensform, die er bei den Predigerbrüdern in Neapel kennengelernt hatte, und in den konkreten Bedingungen des alltäglichen Lebens als Theologielehrer im Predigerorden. Thomas, der sich seiner Fähigkeiten bewusst war, hielt sich nicht für Mittelpunkt der Welt, sondern stellte sich in den Dienst der Universalkirche mit dem Papst als ihrem obersten Hirten und unter das Programm des Ordens. Hier fand er seine Lebensaufgabe, ein Werkzeug des göttlichen Heilsplans für alle Menschen zu sein. Für den Dominikaner und Thomaskenner Jean-Pierre Torrell zählt eine derartige Haltung zu Grundmerkmalen von Theologinnen und Theologen, wie er in einem Beitrag über Theologie und Heiligkeit ausführte. Thomas von Aquin war ein Mann, bei dem Lehre und Leben auf außergewöhnliche Weise übereinstimmten, oder um es mit den Worten Papst Pauls VI. zu sagen: Thomas war nicht nur ein Lehrer, sondern auch ein Zeuge des Evangeliums (vgl. Evangelii nuntiandi, 41).
Dies mag auch das folgende Beispiel belegen: Thomas lehrt in der Summa Theologiae (I-II, q. 68, a. 1), dass Jesus die Menschen zu Demut, Sanftmut und Nächstenliebe aufruft, dies besondere Merkmale seien, die eine Übereinstimmung mit ihm, dem Herrn selbst, bewirken. In der Secunda Secundae (II-II, q. 161, a. 3) hebt Thomas die Demut als eine Haltung vor allem gegenüber Gott hervor, fügt aber hinzu, dass wir auch gegenüber den Menschen demütig sein müssen, und zwar im Hinblick auf die Gaben Gottes, die sich in ihnen finden. Dass dies für Thomas nicht nur ein Gegenstand der Lehre war, die es zu vermitteln galt, sondern dass er die Aufforderung Christi, ihm in Demut und Sanftmut zu folgen, persönlich sehr ernst nahm, wurde während des Heiligsprechungsprozesses mehrfach bezeugt. Der neapolitanische Jurist Bartholomäus von Capua, der Logothet König Roberts, regte, den Forschungen Andrea Tilattis und anderer Historiker zufolge, die Kanonisierung des Aquinaten maßgeblich an. Er sagte im 1319 stattgefundenen neapolitanischen Teil des Prozesses aus, dass Thomas dem Franziskanergelehrten und späteren Erzbischof von Canterbury Johannes Peckham, der ihn in zentralen Lehren heftig bekämpfte und gegen ihn polemisierte, stets mit Sanftmut und Demut begegnet sei. Freilich war Peckham ein theologischer Gegner, aber vermutlich betrachtete ihn Thomas nicht nur als solchen, sondern sah in ihm auch einen Bruder aus dem befreundeten Mendikantenorden. Die Kirche, die eine gesunde (theologische) Streitkultur braucht, kann von Thomas immer noch viel lernen.
In dem oben erwähnten Beitrag über Theologie und Heiligkeit unterstreicht Jean-Pierre Torrell, dass Theologinnen und Theologen sich nicht damit zufriedengeben sollen, das Glaubensgut nur zu behüten, vielmehr sei es ihre Aufgabe, zu zeigen, wie der überlieferte Glaube heute gelebt werden kann. Das erfordert zweifelsohne die Fähigkeit eines zweifachen Zuhörens, nämlich zunächst auf das durch die Kirche überlieferte Glaubensgut sowie auf die Fragen und Nöte der Menschen der jeweiligen Zeit. Darüber hinaus erfordert es einer klugen Kreativität. Beides finden wir beim hl. Thomas. Bekanntlich wurden im Laufe der Geschichte nicht wenige, die dem Magister Thomas in seinem dialogischen und kreativen Zugang zur Theologie folgten, im Namen des „traditionellen“ Thomas zurechtgewiesen, ein Faktum, das man natürlich nicht dem hl. Thomas anlasten kann. Er repräsentiert dagegen eine lebendige Tradition einer unermüdlichen Suche nach Gott, einer engagierten und dialogfähigen philosophischen und theologischen Wissenschaft und einer am Heil der Menschen orientierten Lehre. Es ist eine Ehre, ein Mitbruder des heiligen Bruders und Magisters Thomas sein zu dürfen, über die man sich freuen kann.
Das Foto zeigt das Altarblatt mit der göttlichen Bestätigung der Lehre des hl. Thomas (von Frans Luycx, um 1650), Kapelle des hl. Thomas von Aquin in der Wiener Dominikanerkirche S. Maria Rotunda.
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