Das eindrücklichste Kunstwerk bei uns in St. Martin in Freiburg ist für mich der Grablegungschristus aus dem 19. Jahrhundert. Interessant ist dabei nicht die Figur an sich, sondern die Geschichte, die sie erzählt, denn sie trägt die Spuren der Bombardierung Freiburgs im II. Weltkriegs und ist so ein bleibendes Mahnmal gegen den Krieg. Buchstäblich mitten durch den Leib Christi geht ein Riss. Neben ihm ist die Gebetsstätte unserer ukrainischen Gemeinde, die auch in St. Martin beheimatet ist – und dieser gebrochene Leib Christi ist auch unser Ort des Gebets in diesen Tagen geworden.
Ein Riss geht durch den Leib Christi. Plötzlich wird dieses biblische Bild sehr greifbar und wir erfahren sehr unmittelbar, wie nahe uns die Schwestern und Brüder in der Ukraine plötzlich sind und wir diesen Riss selbst spüren. Dies geschieht auch durch die Nachrichten, die uns aus der Ukraine durch unseren polnischen Mitbruder Jarosław Krawiec erreichen. Jeder Brief hat dabei nicht nur etwas sehr Eindrückliches, sondern auch etwas Stilles in sich: wie plötzlich in der Not alles zusammenrückt – auch über Feindesgrenzen hinweg; wie plötzlich Worte der hl. Schrift ganz konkret werden, wenn sie Brote ausfahren für die, die es jetzt brauchen, („esst, kommt und kauft ohne Geld / und ohne Bezahlung“ (Jes 55,1)); wie das Beste in den Menschen geweckt wird und wie der Glaube Horizont schenkt: „Denn ich vertraue nicht auf meinen Bogen, noch wird mein Schwert mir Rettung bringen; nein, du hast uns vor unseren Bedrängern gerettet; du hast mit Schmach bedeckt, die uns hassen. Wir rühmten uns Gottes den ganzen Tag und deinem Namen werden wir ewig danken“ (Ps 44, 7-9); auch wie sichtbar wird, was Kirche ist: wie Kirchen zu Orten werden, in denen in aller Trennung die Verbundenheit einen Platz hat, wenn fr. Jaroslaw berichtet, wie „die Kirche in Fastiv und das Haus des Heiligen Martin sich mit den Tränen der Menschen füllen, mit der Sehnsucht nach geliebten Menschen, die den Kontakt verloren haben, mit der Sehnsucht nach Heimat und Frieden“.
Unter den Zeilen unseres Mitbruders liegt bei aller Schwere und allem Realismus ein stilles Getragen-Sein. Manchmal sind die Worte sogar humorvoll ironisch (etwa, wenn er das Fasten als plötzlich leicht schildert, denn: „Putin hat uns allen, die wir hier leben, eine „Wunderdiät“ für den Krieg verordnet). Immer wieder erhält auch das Alltägliche einen merkwürdigen Glanz („während des Gesprächs gingen wir zum Fenster. Wir waren überrascht und lächelten, als wir sahen, wie Kiewer Stadtarbeiter die Straße fegten. Genau wie früher, als ob es keinen Krieg gegeben hätte. Wunderschön! Jetzt wird diese Alltäglichkeit zur Seltenheit.“)
In der Einfachheit dessen, was unser Mitbruder schildert, wird Gottes Geist sehr greifbar, der über den Chaoswelten schwebt (Gen 1,2) – und auch die Kraft unserer dominikanischen Berufung, die sich an den „Bruchlinien“ besonders entfaltet. Es wird auch spürbar, was Kirche sein kann – mit den Worten unseres Mitbruders Pierre Claverie, der auch in bedrängter Situation geschrieben hat:
„Unsere Chance … ist, dass wir unsere Reichtümer beraubt sind, unsere Forderungen und unsere Überheblichkeit aufgegeben haben … Danken wir Gott, wenn er seine Kirche zur schlichten Menschlichkeit führt … Es ist gewiss verrückt, noch an die Kraft der nackten Hände und der schlichten Menschlichkeit zu glauben, aber in der Nachfolge Jesu Christi habe ich die Schwachheit zu glauben, dass es eine Kraft ist“.
Blasen werden geöffnet und mit Claveries Worten wird der Ruf spürbar, „den engen Ekklesiozentrismus hinter uns zu lassen, der uns unfähig machte, das Kommen Gottes außerhalb der sichtbaren Grenzen der Kirche zu erkennen“ und wahrzunehmen: „Dieser Moment der Krise, der Erprobung, der Erschütterung ist vielleicht eine einzigartige Chance, sich von Gott berühren zu lassen und mit Jesus und durch Jesus das Kostbare des Lebens zu finden und als eine innere Notwendigkeit intensiver zu lieben – eine Notwendigkeit, die sich aufdrängt, wenn man seine Sicherheiten verliert, seine Verteidigung und seine bescheidenen Mittel“. Worte, die vielleicht auch in unsere Krisen hineinsprechen…
P. Thomas G. Brogl OP, Provinzial